gregorianischer Gesang im Fränkischen Reich

gregorianischer Gesang im Fränkischen Reich
gregorianischer Gesang im Fränkischen Reich
 
Die Bildung des fränkischen Großreichs brachte für die Menschen nördlich der Alpen neue, intensive Berührungen mit der Kultur des Mittelmeerraums. Karl der Große schuf durch die Christianisierung der besiegten Völker nicht nur ein politisch und religiös einheitliches Staatsgebilde in Europa, er strebte auch für dieses neue Reich nach einer Einheit auf allen Gebieten des geistigen Lebens, die getragen war von einer Konzeption der Verschmelzung germanischer Gedankenwelt, antiken Erbes und christlicher Religion. Im Jahre 789 legte er in einer »Admonitio generalis« ausführlich und bis in Einzelheiten fest, dass Schulen zu gründen seien, an denen das Lesen gelernt werden sollte. In jedem Kloster und in jeder Klosterschule sollten die Mönche und Kleriker im Schreiben und in der lateinischen Sprache unterrichtet werden, die Grammatik und die Kalenderlehre kennen und den Kirchengesang samt den Psalmen und der Psalmodie beherrschen. Hier wie auch in nachfolgenden Verfügungen wurde betont, dass der Klerus die römische Liturgie und deren gottesdienstliche Gesänge erlernen und ordnungsgemäß singen sollte. Im Jahre 802 wurde dann der römische Gesang für die Messe und das Offizium förmlich eingeführt.
 
Dem Streben nach politischer, kultureller und damit auch liturgischer Einheit standen allerdings auch Schwierigkeiten im Wege. Zeitgenössische Berichte sind sich darin einig, dass die Singweisen beiderseits der Alpen deutliche Unterschiede aufwiesen, dass also die Germanen durch die Art, wie sie den Gregorianischen Choral aufnahmen, ihn sogleich veränderten und mit ihrer eigenen musikalischen Vorprägung verbanden. Einzelheiten hierüber lassen sich nicht mit Sicherheit ausmachen. Teils werden die von Rom ausgesandten Kantoren, die den Gregorianischen Gesang verbreiten sollten, dafür verantwortlich gemacht, diese Uneinheitlichkeit der Singweisen absichtlich provoziert zu haben. Teils wird die Ursache für die Unterschiede bei den Franken selbst gesehen, die, wie der römische Geschichtsschreiber Johannes Diaconus schreibt, »mit ihrem älplerischen Körperbau und ihren wie Donnerschall ertönenden Stimmen die Süßigkeit des übernommenen Gesangs nicht wiederzugeben vermögen
 
Von größter Bedeutung für die Geschichte der abendländischen Musik war aber die Tatsache, dass für die Übermittlung der bislang nur mündlich tradierten Gesänge an fremde Völker, die deren Form, Stil und liturgische Verwendung kaum kannten, die vertraute Technik des Vorsingens und Nachsingens nicht ausreichte und das von Jugend an gewohnte Üben und Repetieren ohnehin nicht angewendet werden konnte. So ergab sich die Notwendigkeit, nicht nur die Texte, sondern auch die dazugehörigen Melodien aufzuzeichnen. Und diese Aufzeichnung, die dann mit den Neumen, Symbolzeichen für melodische Bewegungen, einsetzte, bildete, so unvollkommen sie zunächst war, den Beginn der europäischen Notenschrift, die sich von da an über Jahrhunderte hinweg zu einem eindeutigen und zuverlässigen Mittel der Notierung von Tönen und Klängen entwickelt hat.
 
Interessanterweise scheint es, soweit man heute sieht, bei dem Prozess der Übermittlung und Aufzeichnung auch zu einer Sichtung und Redaktion, zur bewussten Umformung durch die römischen Kantoren oder unbewussten Veränderung durch die fränkischen Sänger, jedenfalls zu stilistischen Modifikationen gekommen zu sein, die man allerdings nur umrissartig aus späteren Quellen erschließen kann. Demzufolge muss es eine altrömische Gesangstradition gegeben haben, die mit den Versionen des jetzt entstehenden fränkisch-gregorianischen Chorals nicht übereinstimmte. Herrschende Tendenz im Prozess dieser Umformung war der Versuch, Worte und Textabschnitte plastischer herauszuarbeiten, klarere Gliederungen zu schaffen und großflächigere Einheiten zu bilden im Sinne einer rationalen Durchdringung des melodischen Materials und des interpretierenden Umgangs mit der sprachlichen Vorlage. Die Gesänge wurden dadurch teils übersichtlicher, teils reicher und differenzierter, vor allem aber wirkungsstärker auf das Gotteswort, das sie verkündeten, ausgerichtet.
 
Zugleich hatte die Einführung des Gregorianischen Chorals bei den Franken enormen Einfluss auf die schöpferischen Kräfte im Karolingerreich. Der tägliche Umgang mit den neuen liturgischen Gesängen war für die Musiker und Dichter des 9. Jahrhunderts ein Anlass für vielfältige Neuschöpfungen. Dabei blieb der Gregorianische Choral prinzipiell Maßstab und Richtschnur, forderte aber andererseits dazu heraus, eigene zeitgenössische Melodien und Formen zu erproben. So waren beim Ordinarium Missae eher schlichte, litaneiartige Weisen aus Rom vorgegeben. Die Musiker der Karolingerzeit vertonten nun die Texte neu, wie es die über 200 erhaltenen Melodien für das Kyrie, das Sanctus und das Agnus Dei belegen. An vielen Orten entstanden auch neue Alleluia-Melodien. Für regionale Heiligenfeste schuf man neue Offiziumsgesänge, in denen die biblische Prosa der römischen Liturgie durch versartige Partien aufgelockert wird.
 
Daneben wurden ganz neue Gattungen geschaffen, wie zum Beispiel lyrische Strophenlieder und geistliche Spiele, Sequenzen und Tropen. Sequenzen nahmen ihren Ausgang von Textierungen der langen Melismen des gregorianischen Alleluia, waren also Versdichtungen, die anfangs den vorhandenen Tönen der letzten Alleluia-Silbe unterlegt wurden. Diese Textierungen waren zunächst Gedächtnishilfen, um sich schwierige Tonfolgen einprägen zu können. Hinzu kam die Freude an der Kunst des Bearbeitens. Das sich rasch ausbreitende Sequenzschaffen eröffnete aber auch die Möglichkeit, eigene Texte in die Ordnung der gottesdienstlichen Gesänge zu integrieren. Der Jubilus auf der Silbe »ia« des Alleluia war dabei nur der Ausgangspunkt, bald wurden auch neue Melodien erfunden, deren Wurzeln möglicherweise im weltlichen Bereich lagen. Darauf deutet jedenfalls die typische Gliederung der Sequenzmelodien in Abschnitte, die jeweils wiederholt werden, hin. Analog sind auch die Texte gebaut, die sich aus strophenartigen »Doppelversikeln« zusammensetzen. Aus dem im Mittelalter mehrere Tausend umfassende Sequenzrepertoire werden heute im Gottesdienst noch die Sequenz zu Ostern »Victimae paschali Laudes« und zu Pfingsten »Veni Sancte Spiritus« gesungen.
 
Die frühen, noch nicht parallel gebauten Sequenzen waren im Grunde eine spezifische Form des »Tropus«, der seit dieser Zeit sich überall ausbreitenden Technik des Erweiterns, Ansetzens und Umformens auf der Grundlage vorhandener Choralmelodien. Einen Gesang tropieren heißt, ihm einen neuen Text unterlegen, ihn musikalisch weiterführen und verändern, aber immer so, dass die Ausgangsgestalt erkennbar und die ursprüngliche liturgische Funktion erhalten bleibt. Am häufigsten wurden Messgesänge - des Proprium und des Ordinarium Missae - tropiert, sodass ein Kyrie, ein Gloria, ein Sanctus oder ein bekannter Introitus nun mit textlichen Kommentaren und Erläuterungen und in musikalisch teilweise neuem Zuschnitt vorgetragen wurde. Beispielhaft zeigt das der folgende Kyrie-Tropus, bei dem das zu Grunde liegende »Kyrie eleison« (»Herr, erbarme dich«) als Rahmen für die eingefügte Tropierung erhalten bleibt. Der ursprüngliche Sinn wurde dabei kunstvoll mit dem Neuen verbunden. Der Tropus blieb somit ausschmückender Zusatz und führte, ausdrücklich oder zumindest der Intention nach, zu dem originalen Gesang, von dem er ausgegangen war, wieder zurück.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musiktheorie, herausgegeben von Thomas Ertelt und Frieder Zaminer. Band 3: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter. Beiträge von Michael Bernhard u.a. Darmstadt 1990.
 Hammerstein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. Bern 21990.
 Hirtler, Eva: Die Musik als scientia mathematica von der Spätantike bis zum Barock. Frankfurt am Main u. a.1995.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 2: Die Musik des Mittelalters, herausgegeben von Hartmut Möller und Rudolf StephanLaaber 1991.
 Walter, Michael: Grundlagen der Musik des Mittelalters. Schrift — Zeit — Raum. Stuttgart u. a. 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • gregorianischer Gesang — gregorianischer Gesang,   gregorianischer Choral, der chorisch und solistisch einstimmige liturgische, mit der lateinischen Sprache verbundene Gesang der römischen Kirche in den Formen Oration, Lektion, Antiphon, Responsorium, Hymnus (Hymne) und… …   Universal-Lexikon

  • Musik — Töne; Klänge; Tonkunst * * * Mu|sik [mu zi:k], die; , en: 1. <ohne Plural> Kunst, Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit hinsichtlich Rhythmus, Melodie, Harmonie zu einer Gruppe von Klängen und zu einer Komposition zu ordnen: klassische,… …   Universal-Lexikon

  • Divodurum — Dieser Artikel befasst sich mit der französischen Stadt Metz; zu weiteren gleichnamigen Bedeutungen siehe Metz (Begriffsklärung). Metz …   Deutsch Wikipedia

  • Metz — Metz …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”